Silberling der Woche

Jede Woche verleihen wir ihn neu: den Silberling der Woche. Unter zig frischen Silberlingen, die jede Woche auf den Markt kommen, auserwählt nach einem bestimmten Regelwerk. Zum Silberling kann ein Album nur in der Woche der Veröffentlichung werden oder eine Woche davor oder danach. Bei der Auswahl achten wir auf die „gesunde“ Mischung. Jeder Style ist möglich. Der „Nachwuchs“ kommt ebenso zum Zuge wie die „Großen“. Im Westen ist der Silberling seit Herbst 2001 tägliches Programmelement bei den CampusRadios NRW und den PartnerRadios.

Silberling der Woche 42/2010

Albumcover

Sufjan Stevens
The Age Of Adz

Wenn man es mal schematisch runterbricht, ist der Ablauf bei großen, namhaften Künstern ja so: eine neue Platte wird angekündigt, die Erwartungshaltungen sind hoch und das Produkt wird mit Wohlwollen vom Publikum akzeptiert. Das sagt zugegebenermaßen nicht viel über die Qualität dessen aus, was denn da präsentiert wird.
 
Bei Sufjan Stevens ist das nicht anders, waren die Vorgängeralben doch maßgebend für das, was in den letzten Jahren zwischen Folk, Songwriting und Indiepop entstanden ist. Nun bietet er nicht nur weiterhin Qualität, sondern auch Reibungspunkte. Denn "The Age of Adz" formt sich nur aus den Händen des Wahl-New-Yorkers aus Michigan, sondern auch aus seinem Laptop - und scheint schier eine Trendwende zu sein. bei der mancher Fan sicherlich mehr als einmal deutlich schlucken muss. Sufjan hat sich erneuert. Elektrisches Gefrickel, mal aggressiv, mal geschmeidig, durchbricht die ruhigen, folkigen Spuren. Hintergründige Chöre treten nach vorne, es entwickeln sich immer wieder Momente voll Bombast und orgiastischer Komplexität. Wenn an manchen Stellen zudem Sufjans sonst so authentische und doch aufregende Stimme wie durch einen Fleischwolf mit dieser Erfindung namens Autotune gedreht wird, ist die Irritation fast perfekt. Sufjan will alles: Songwriting, Orchester, Clicks'n'Cut. Und er will alles auf einmal, so dass die Gesamtlänge von 75 Minuten Zeit genug bietet, sich zu wundern, sich überraschen zu lassen oder legitimerweise auch einfach mal zu fragen, was das Ganze soll.
 
Was ist das für ein Album, "The Age of Adz"? Pure Entscheidungsunfähigkeit des Musikers? Klänge, in kleine Stücke geschreddert, durcheinander in eine Form gegeben und als Langspieler serviert? Chaos als Konzept für ein neues Album? So einfach macht es sich der Interpret dann doch nicht. Auch wenn die Platte als Summe hier wie eine unkontrolliert hingeworfenes Mosaik wirkt - die einzelnen Teile ergeben in sich Sinn, wecken Emotionen, machen Lust auf mehr. Warum also, sollte das Album nicht auch als Ganzes funktionieren, wenn es seine einzelnen Bausteine schon tun?

Fast vergeblich ist die Suche nach einer Struktur der Liedabfolge. „Futile Devices“ macht einen wunderschönen ruhigen Auftakt, fast schlicht, irgendwie der bekannte Sufjan Stevens. Sein „I do love you“ klingt fast wie eine Entschuldigung für die kommenden Veränderungen, wenn auf einmal der Computer hochgefahren wird, es digital knarzt, frickelt und blubbert. Der zweite Track „Too Much“ ist einfach nicht zu viel, auch wenn er auf sich alles vereint, was die Neuerungen so hergeben: Ein ganzes Orchester stellt er sich ins Studio, wütet mit Wahn. Als würde er Björk einen Gruß hinterlassen, trommelt sich der Track nach vorne, bis seicht die Stimme daherkommt und etwas Ruhe einkehrt. Irgendwann jedoch füllt sich das Programm mit neuem elektronischem Stoff, Backgroundchöre laden die Stimmung auf, geben der Sache eine anmutige Note. Dabei soll es nicht verbleiben. „It's too much writing on there“ wird stetig wiederholt und ein violinenbegleitetes Interlude, gepaart mit musikalischem Strom ist noch eine Aufwärmphase, die in einem fulminanten Abschluss endet.
 
Der Titeltrack beschwört ebenfalls ein Inferno hervor und lässt nun wissen, dass es sich hierbei nicht um eine simple Sache handelt: Sufjan verschreibt sich einmal mehr dem Bombast, den großen Momenten mit viel Wumms und Bumms. Große Trompeten, große Chöre, große Musik. Lauter drehen hilft die Momente auch körperlich zu erfahren, den musikalischen Orgasmus, der bisweilen auch ins Schwarze gekehrt wird: „This is the age of adz. Eternal living“. Ein musikalisch inszenierter, erhabener Weltuntergang mit Referenz zur apokalyptischen Kunst des psychotischen Royal Robertson, von dem sich Sufjan den Titel für sein Album borgt. Royal Robertson selbst hat sich als Propheten verstanden, er hat unter anderem Gott als Piloten eines Raumschiffes gesehen. Wirr. Genauso wie "The Age of Adz".
 
War es gerade noch die Apokalypse, kommt „I Walked“ so sentimental daher, gleichzeitig dynamisch und hoffnungsspendend, dass sich kleine Lichtblicke hervortun und zwischendurch doch Sinn gestiftet wird und sich die Chance ergibt, sich zu identifizieren: "I walked 'cos you walked but I probably won't get very far", singt Sufjan gebrochen und weltenttäuscht.
Dabei ist er dem Hörer immer einen Schritt voraus in diesem Album, das Chaos bedeutet, Apokalypse und Verwirrung. Klänge bedeuten bei Sufjan Stevens seit jeher Katharsis, und so setzt er sich in einem noch stärker vertrackten Klangwirrwarr der Selbstfindung aus, die er auch dem Hörer auffordern abverlangt.
„I need to do myself a favour and get real, get right with the lord“.
 
Gott hin oder her - auch ohne die Bejahung von Religion und Spiritualität darf man Gefallen an diesem Werk finden, was fiepst und knarzt und wie wie ein psychedelischer Trip in den Ohren hallt und die graue Masse anständig aufwühlt. Das ist gut so. Das klingt gut so. Das will öfter erlebt werden. Auch, um zu merken, dass es sich hier nicht um reine Willkür handelt. Nimmt man den höhepunktbesetzten vorletzten Track „I Want To Be Well“, bleibt man an der unglaublich schön drivigen , bis zur Unendlichkeit wiederholten Stelle hängen: „I'm not fucking around.“ Was man Sufjan in dem Augenblick gerne glaubt. Und dann doch ins Zweifeln gerät, wenn er dekadent fünfundzwanzig Minuten für ein letztes Epos aufbringt, in dem er ein Thema nacheinander in verschiedenen Wirkungsgraden aufarbeitet. Hier viel Pomp, da viel Ruhe, dort die Aufforderung zum Tanz. Und selbst vor neumodischen Mätzchen wie Autotune macht er wieder keinen Halt. Als plane er eine akustisch-mentale Vergewaltigung, verzerrt es hier diese sonst so angenehme und glaubwürdige Stimme ins Absurde und fordert so den Hörer ein letztes Mal.
 
Geschmackssache? Eigentlich nicht. Sufjan wagt die persönliche musikalische Evolution und verschreibt sich dem Experiment, das sogar an mancher Stelle etwas zu sehr die immer noch guten Songs übertüncht, die unter dem Laptop-Geplucker auf Entdeckung warten. Sufjan darf das, ein jeder Musiker darf das: Neue Wege erkunden, scheitern - oder wie in diesem Falle: Gewinnen. Ein weiteres Mal wird es gewiss diesen Sufjan so nicht geben, zu sehr ist „The Age of Adz“ zugespitzt in eine Richtung formuliert, dass an eine nahtlose Fortsetzung zu denken wäre. Dieses Werk ist fürchterlich schöner Haufen stimmiges Chaos. (Philipp Wolf, CT das radio)

 VÖ: 08.10.2010

Links: Label | Bandcamp (Reinhören und ausgewählte Titel gratis laden)

Anspieltipps

Age of Adz, #3
Link:

I Walked, #4
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I Want To Be Well, #10
Link:

Too Much, #2
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Get Real Get Right, #6
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