Chilly Gonzales zu Gast im Dortmunder Konzerthaus. The Unspeakable Chilly Gonzales. Die pointenreiche Veranstaltung ereignete sich am 4.11.2011 und die Insassen des nahezu ausverkauften Saals durften Zeugen sein, wie der Kanadier sich zur Rockstadionhymne der Scorpions dreimal durch das Ambiente tragen ließ. Sein Befund: „It´s like a baby is getting born.“
Das enfant terrible bekam einfach nicht genug vom Stagediving. Dabei fing der Abend relativ erhaben und gediegen an. Gonzales bewies sein Fingerspitzengefühl – zumindest in anatomischer Hinsicht. Die ersten Stücke gingen ganz ohne orchestrale Begleitung über die Bühne und demonstrierten: hier sitzt ein Virtuose am Piano. „Knight Moves“, der Opener von „Ivory Tower“, funktionierte ohne elektronische Untermalung ebenso gut wie die Studioversion. Gonzales ist ein Genie, das zugleich durch seine Entertainerqualitäten brilliert. Aber das ist keine Überraschung mehr, denn Gonzales’ letztes Album ist schließlich das erste vollkommen orchestrierte Rap-Album. Tendenziell eher schwer vereinbar, schafft Gonzales die Brücke zwischen Sprechgesang und dem eigentlich eher als klassisch klassifiziertem Piano. So beispielsweise in „Beans“ als auch in „Rap Race“, in dem sich zahlreiche Statements gegen musikalische Xenophobie finden lassen: „If you don´t like rap, then face it, you probably hate this, you’ re probably racist.“ Das Motto lautet daher: Grenzüberschreitung, musikalische Engstirnigkeit, adé! „Let´s take the boundaries away“, so Gonzales gen Publikum, das an der Show wahrlich genug Möglichkeiten zur Partizipation hatte. Denn die klassische Konstellation Publikum und Musiker wurde permanent aufgehoben; Gonzales suchte die Konversation. Gleich zweimal wurden Besucher in die One-Man-Show involviert und übernahmen mitunter das eigentlich leitende musikalische Element: das Klavier; für Gonzales das einzige „object of desire“, wie er den Gastpianisten aus dem Publikum ermahnte. Das Klavierspiel ist bei dem Produzenten, Autor und Komponisten ein Akt, der den gesamten Körper durchstreift: Gonzales zuckt, schüttelt sich, haut auf sein Lustobjekt dermaßen schnell ein, dass jedes Metronom, jedes noch so präzise BPM Berechnungsgerät unmittelbar den Geist aufgeben würde - bis die Töne sich auf einmal doch wieder verdichten, langsamer und behutsamer werden und plötzlich und abrupt in „Für Elise“ konvergieren. Fast schon massenkompatibles Amüsement.
Dennoch verbirgt sich hinter jedem Stück seines im Sommer erschienenden Albums „The Unspeakable Chilly Gonzales“ (das er fast komplett zum besten gab) ein ambitionierter Feingeist. Ein wenig erinnert Gonzales’ referenzreiche Show an den niederländischen Musikkomödianten Hans Liberg, der in seinen ebenfalls dialogsuchenden Konzerten immer wieder infantil und mit einer musikalischen Leichtigkeit darauf verweist, dass sich auch heutige Melodien klassisch sehr lebhaft realisieren lassen. Gonzales selbst gibt zu, dass einige seiner Melodien durch die Kombination von gerade mal drei Akkorden auskommen und er resümiert im Konzerthaus Dortmund philosophisch im romantischen Kaminlicht, das von seinem i pad ausgestrahlt wird (=das gelungenste Product Placement während eines Pianokonzertes).
Dem Multitalent Chilly Gonzales gelang ein rundum lebhafter Abend in gewöhnlich eher dezenterer Atmosphäre. Warum auch hochkomplex komponierte Melodien, die dafür unnötig in die Länge gehen, wenn es doch Musiker wie Gonzales gibt... Bloß keine falsche Eitelkeit! In Kafkas „Bericht für eine Akademie“ wagt es eine Affengestalt, offen zu sprechen: „Ihr Affentum, meine Herren, sofern sie etwas Derartiges hinter sich haben, kann Ihnen nicht ferner sein als mir das meine. An der Ferse aber kitzelt es jeden, der hier auf Erden geht: den kleinen Schimpansen wie den großen Achilles.“ Gonzales trug zwar diesmal keinen Bademantel, dafür aber Schlafpuschen. Seine Fersen waren also offen sichtbar. Und sie bewegten sich 90 Minuten, als wären sie erbarmungslos von einer Feder gekitzelt worden.
(Philipp Kressmann, Radio CT)