Walter Schreifels sieht aus wie Johnny Depp am Ende von "Blow". Nicht ganz so aufgequollen, aber genauso langhaarig, genauso gleichzeitig ansatzbierbäuchig und irgendwie überraschend klein und dünn, genauso in billigem Anzug und komischen Anzugschuhen. So sieht Walter Schreifels jetzt aus?
Wer nur für eine Vorband zu einem Konzert fährt, ist selbst schuld und kann eigentlich nur verlieren. Schlimm ist es aber erst, wenn man gar nicht weiß, dass die Band, für die man da Ewigkeiten auf nassen Autobahnen verbracht hat, nicht Hauptact ist.
Als ich ankomme, sind Hudson schon fertig. Macht nichts, letztens vor Muff Potter gesehen, nicht schlecht, aber muss man nicht zweimal sehen. Die zweite Band baut gerade auf und ich frage mich, warum denn Walter Schreifels da schon im Hintergrund werkelt. Hilft er der Vorband beim Aufbauen? Springt er als Ersatzgitarrist ein? Ist er so perfektionistisch, dass er seinen eigenen Kram schon in Position bringt?
Es dauert lange, bis mir klar wird: Walking Concert spielen als zweites. Maritime sind Band des Abends weil der Stunde und des Labels des Jahres. Ich hätte es wissen können: so sieht kein Walter-Schreifels-Publikum aus.
Der Mann, der alle Bands gegründet hat, die Hardcore und Emo erfunden haben, kommt gemächlich mit einer Bierflasche in der Hand auf die Bühne. Die Maritime-Zuschauer gehen auch noch mal an die Bar. Leute, hier bleiben, Walter Schreifels...!
Egal, ich freue mich, unglaublich. Ich stehe ganz vorne, ohne gedrängelt haben zu müssen, da oben stehen Walking Concert und gleich werden sie anfangen, mit "What`s Your New Thing", das ist klar.
Aber gleich die ersten drei Songs des Albums als erste drei Songs des Sets? Seltsam irgendwie. Natürlich großartige Musik, keine Frage. Ich habe das Album sofort gekauft, als es rauskam, und kenne es auswendig. Ich finde es genial und weiß gleichzeitig, dass ich es nur halb so genial finden würde, wenn es nicht Walter Schreifels wäre.
Gut, dass John Lennon nicht mehr lebt. Das Elvis-Syndrom. Vielleicht ist jeder irgendwann vorbei, egal, wie oft er sich neu erfindet. Ist Madonna in Aerobic-Pink noch Madonna?
Walter Schreifels ist alle Beatles in alles Phasen. Jung und laut und genial, alt und seltsam, experimentell, ursprünglich, klein, groß, Mann und Junge, T-Shirt und Anzug. Und keiner kennt ihn.
Ist überhaupt irgendjemand außer mir für Walking Concert da? links von mir sehen zwei Jungs irgendwie ein ganz kleines bisschen nach Hardcore aus und starren wie ich auf Walter Schreifels. Rechts von mir tanzt eines dieser Mädchen, die auf allen Konzerten tanzen und immer gleich und überhaupt nicht wissen, wozu.
Ich wünsche mir Menschen in Gorilla-Biscuits-T-Shirts und sehe nur H+M-Fußballtrikotpersiflagen, Polohemden und Glitzerschals. Grand-Hotel-van-Cleef-Publikum. Jung, gutaussehend, urban, nett irgendwie.
Walter Schreifels ist auch nett irgendwie. Und viel zu Vorband. Das hat er doch nicht nötig. Hat er das nötig? Niemand kommt an Walter Schreifels heran, auch Walter Schreifels nicht, aber er versucht es auch nicht wirklich. Er ist als Walking Concert hier und ich kann das nicht akzeptieren.
Ich wünschte, ich hätte doch ein Interview gemacht. Ich weiß, er wäre toll gewesen und hätte ganz viele schlaue Sachen gesagt und die jungen Leute aufgefordert, einfach rauszugehen und Musik zu machen und sich bei der Station ID richtig Mühe gegeben und es gut gefunden, dass es noch Radios gibt, wo sich Leute ehrenamtlich den Kopf abarbeiten, um gute Musik zu spielen. Und dann hätte er mir ein Poster geschenkt und mir was vom Catering und eine kalte Backstagekühlschrank-Cola angeboten. So machen das tolle Bands.
Mir fehlen "Audrey" und "A Lot To Expect". Es gibt fast alle Songs vom Album - klar, lang ist es ja nicht - und ein paar, die nicht drauf sind. Und sie sind alle toll, natürlich. Weil es Walter Schreifels ist. Und überhaupt.
Ich klatsche am längsten. Es gibt keine Zugabe. Außer mir will auch niemand eine.
Am Merch-Stand kaufe ich Felix Gebhardt ein Walking-Concert-T-Shirt ab und blicke zusammen mit ihm mal wieder nicht bei den Froot-of-the-Loom-Größen durch und ärgere mich mal wieder, dass Band-T-Shirts für Frauen immer rosa oder hellblau sind. Neben mir steht ein Typ, der das Album von Home Of The Lame kauft ("ganz neu bei Grand Hotel van Cleef" steht auf dem Schild, Herr Gebhardt weiß, wie man auch ohne zu Spielen verkauft) und einem anderen Typen, der die CD "von der Band, die da gerade gespielt hat" haben will, Walking Concert wärmstens empfiehlt. Walter Schreifels - ein Geheimtipp...?!
Es dauert lange, bis ich Maritime ihr ignorantes Publikum verzeihe und einsehe, dass sie zurecht Hauptact sind. Dass eben nur Walking Concert zu unrecht Vorband waren. Ja, Maritime sind gut. Gute Albumband, gute Liveband, nett, lustig. Und GHvC-typisch irgendwie sehr unhip und bärtig und pummelig und nicht mehr ganz jung, was aber das GHvC-typische Publikum nicht stört und ausgleicht.
Und dann schiebt sich Walter Schreifels an mir vorbei nach vorne. Und von so nah dran sieht er gar nicht so alt und drogendealerisch aus. Sondern sehr jung und musikalisch und als wäre er noch nicht auf einer Millarde Shows gewesen und hätte schon zehn Milliarden Bands gesehen und wüsste ganz genau, dass er besser ist als jede von ihnen. Die Bierflasche hat er immer noch dabei, eine neue wohl eher, und als er zusammen mit allen eine Zugabe fordert, reißt er sehr angetrunken die Arme in die Luft und erinnert mich an diese Geschichte eines Kumpels, der mal mit ihm in einem Park in New York gekifft haben will oder so. Aber im Moment ist er ja nicht mit dem Rest der Band und dem einen oder anderen Groupie im Arm Backstage und haut sich den Kopf weg, sondern steht ganz einfach und alleine zwischen den Maritime-Fans und schaut wie alle auf die Bühne und hat Spaß.
Und immer noch erkennt ihn keiner. Er könnte einen Ringelpulli und eine rot-weiße Pudelmütze anhaben und trotzdem würde niemand Wally inmitten dieser Menschen finden. Weil ihn niemand sucht.
Wie vielen Bands wirft man Sell-Out vor und das zurecht, wie leicht hätte Walter Schreifels das haben und damit gut Geld machen können. Wie leicht hätte er andererseits völlig Unhörbares als neuen Geniestreich verkaufen können, weil er es ja einfach nicht mehr nötig hat und Walter Schreifels ist. Stattdessen macht er Pop und das richtig gut und ist Vorband und Publikum und einfach Musiker. Ist ja nicht seine Schuld, dass ihn keiner mehr kennt. (Britta Helm, Radio Q)