Braun war die Farbe des Wochenendes. Braun in den verschiedensten Varianten und Tönungen. Dunkles Umbra klebte unter den Schuhen, etwas helleres Ocker sammelte sich in kleineren Pfützen, in denen vom Himmel Gefallene konzentrisch ihre Kreise zogen. Die dicken Regentropfen bildeten schier unüberwindbare Meere auf dem sandigen Voltigierplatz. Quietschend glitschten die 7000 Besucher des 22. Haldern Pop zur Bühne.
Petrus hatte dieses Jahr an beiden Festivaltagen das Headlining übernommen und ließ sich durch nichts von seiner Arbeit abbringen. Ganz so konzentrierten sich auch Millionaire aus Belgien auf ihren brachialen Riff-Gitarrensound und eröffneten die Hauptbühne am Freitag. Schon 2002 hatten sie erfolgreich in Haldern gerockt und zeigten, was sie aus ihrer Zusammenarbeit mit Josh Homme von den Queens Of The Stone Age mitgenommen haben: Sie sind eine Spur härter als früher.
Mit dem Wetter in Haldern vertraut waren Art Brut: "There´s not much glam about the English - and the German - weather, think I´ve got it sorted, gonna get myself deported." Das war die Botschaft verbunden mit der Aufforderung "Moving To L.A." von ihrer neuen Platte. Noch besser aber der Kommentar: "Stay away from crack, stay away from Pete Doherty!" Art Brut - ein Name, den man sich auf jeden Fall merken sollte, denn ihre rockigen Songs sind nicht nur durch Haldern längst schon von der Insel zu uns herüber geschwappt. Auch wenn der Sound sich der Matsche des Geländes anglich, soviel hat man doch verstanden: In puncto Bandnamen-Aussprache kann man sich voll und ganz auf seine Deutschkenntnisse verlassen. Auch wenn dann alle Französischliebhaber zusammenzucken, das ist sophisticated.
Die ebenfalls regen- und kälteerfahrenen Robocop Kraus aus Nürnberg lieferten mit ihrer Performance eine solide Grundlage und vor allem Grundstimmung für die Kaiser Chiefs. Die fünf Jungs aus England schlugen ein wie eine Bombe, und das im wahrsten Sinne des Wortes: Die Band sprühte vor Enthusiasmus und steigerte sich immer exzessiver in die Drehungen und Wendungen ihrer Sounds. Sänger Ricky Wilson konnte es nicht lassen sich immer wieder ins nasse Publikum zu werfen und hüpfte, wenn er mal auf der Bühne stand, so ausgelassen auf der Monitorbox, dass er um ein Haar hinuntergefallen wäre. Selbstironie. Lachen. Weitermachen. Ansonsten keinerlei Ausrutscher auch nicht beim fulminanten Höhepunkt "Oh My God", der nun auch den letzten Unschlüssigen überzeugte.
Kein bisschen unschlüssig war Nada Surf-Sänger Matthew Caws. Trotz Geburtstag brachte er zusammen mit Bassist Daniel Lorca und Schlagzeuger Ira Elliot nach so viel Rock etwas Indie-Pop dorthin, wo einstmals noch vor wenigen Stunden eine grüne Wiese war. Sie verzauberten nicht nur das Publikum, sondern auch sich selbst. Daniel Lorca mit den langen dunkelblonden Rastas war wie versunken in das lauffreudige Spiel der Basslinien, völlig eins mit sich, seinem Instrument (die übrigens von der kompletten Band während der Show kein einziges Mal gewechselt wurden) und seiner Zigarette. Neben den alten Songs gab es auch drei Titel vom neuen Album "The Weight is a Gift", die sich wunderbar ins Repertoire eingliedern - allen voran die neue Single "Always Love".
An das Verzauberungsgeheimnis von Nada Surf konnten Kaizers Orchestra nicht anknüpfen. Mit ihren Fässern und der Gasmaske lieferten sie ihren gewohnt originellen Klang ab. Doch auch wenn Sänger Janove Ottensen versuchte, die Haldern-Romantik von 2003 heraufzubeschwören und immer wieder im Publikum nach Leuten suchte, die damals mit ihm nach der Show im kleinen See schwimmen war, diesmal blieben die Norweger hinter ihrem üblichen Charme und Einsatz und hinterließen etliche unbefriedigte Gesichter zwar mit einigen neuen Songs wie "Maestro" und "Blitzregn Baby", aber ohne das erhoffte und ersehnte Gypsy Finale.
Anders Franz Ferdinand: Die inzwischen schlammige Masse im Dunkel vor der Bühne schnell für sich vereinnahmt, denn gute Stimmung lässt gesangliche Schwierigkeiten nur halb so schlimm erscheinen. Ein Halbton daneben, das verklingt im allgemeinen Mitgesinge, schien sich Alex Kapranos wohl gedacht zu haben und performte solide vor den vier überdimensionalen Deko-Konterfeis. Gitarrist Nick McCarthy hingegen verlies sich auf seine Deutschkenntnisse und übersetzte alle Ansagen für die tanzende Menge:
Nach Franz Ferdinand gab es die Qual der Wahl: entweder ins warme Spiegelzelt, wo zu später Stunde noch British Sea Power überzeugten, oder hinein in den klammen Schlafsack. Wer die Nacht von trockenen Schuhen und sonnigen Konzerten träumte, wurde beim Blick aus dem Zelt im Morgengrauen in die raue, harte Realität zurückgerissen. Pünktlich zum souveränen Mersey-Beat-Auftritt von The Coral verdunkelte sich der Himmel, und die Nässe suchte nicht mehr nur von unten über die Hosenbeine Herr des Festivals zu werden. Dabei hatte doch zuvor eine Stunde lang immer mal wieder die Sonne geschienen. Allerdings blieb während dieser Zeit die Bühne leer, weil The Magic Numbers ihren Flug aus England verpasst hatten und nun zeitgleich mit The Coral im Spiegelzelt auftraten. Glücklich, es überhaupt noch zu einem Gig bei Haldern geschafft zu haben, versprühten die vier gutgenährten Langhaarigen Love, Peace and Happiness. Auch an die Frauenquote war bei dieser Besetzung gedacht, denn Sänger Romeo Stodart und Schlagzeuger Sean Gannon brachten jeweils ihre Schwestern mit in die Band. Mitklatschen bei ihren Schmuse-Hippie-Songs war mehr als nur erwünscht, und so wiegte sich die Menge in einem Meer aus eingehender, weil einfacher Songtexte. Fast wie beim Schützenfest: Wo´s warm ist, lässt sich´s aushalten, egal was es dabei auf die Ohren gibt und wenn es allein schon von der Anmutung das Revival der Kelly Family ist.
Ebenfalls nach Liebe schmachtete der schwedische Moneybrother wieder draußen auf der Bühne. "Blow Him Back Into My Arms" ließ er von sich vernehmen, und da kein anderer in Reichweite war, schloss er Saxophonist Gustav Bendt in seine Arme und tanzte eng umschlungen mit ihm auf dem Podest vor der Bühne, ganz in Möchte-gern-ein-wilder-Rockstar-sein-Manier. Genauso wenig konsequent Patrick Andersson: Wollte er nun in der Ekstase des Moments seinen Bass zerschlagen oder traut er sich doch nicht? Die Mädels an den Barrieren beeindruckt von soviel innerer Zerrissenheit und der für einige Männer-Ohren entsetzlichen Jammerstimme.
Spätestens jetzt war das Festival eine reine Schlammschlacht. Die Furchen auf dem matschigen Untergrund wurden größer und größer. Fast parallel zu den Gesichtern der wiederbelebten 80er Jahre-Popper House Of Love. Ohne rechte Spielfreude, ohne Blickkontakte untereinander und Publikumsansagen hatten sie es schwer, die Stimmung zu halten.
Ganz anders Phoenix: Hatte man von den fünf gut aufgelegten Franzosen eine Musique d´Amour erwartet, wurde man mehr als enttäuscht. Dafür gab es in der Tat etwas rockige Titel wie "Everything Is Everything". Wirklich von französischem Rock zu sprechen, wäre dann doch ein bisschen zu weit gegriffen. Auch wenn Sänger Thomas Mars immer wieder eine rockigere Version als die vom Album versprach, Pop bleibt Pop. Auch wenn zuweilen groß inszenierter. Das intensive, neunminütige "Funky Squaredance&" darf als eines der Highlights auf dem diesjährigen Festival gelten.
Was man von den inzwischen total sophisticaten Tocotronic nicht behaupten kann. Ihr neues Album "Pure Vernunft darf niemals siegen" verschwand unter den Highlights der langjährigen Bandgeschichte. Dass man auf der Bühne Spaß zulässt, war gestern. Alleine das furiose Zugabenfinale überzeugte spielerisch, einsatztechnisch und vor allem durch klangliche Brillanz. Genau diese fehlte dem Auftritt der Schwedischen Headliner Mando Diao. Mit einem Blitzstart durch "Cut The Rope" spielten sie sich durch das Set mit der höchsten Hitdichte pro Viertelstunde. Petrus lies sich nicht lumpen und zog nach mit der höchsten Regenmenge pro Quadratmeter, die das Festival wohl je erlebt hat. Die Gitarrenfront zeigte sich unbeeindruckt und offenbarte, welches songwriterische Potenzial in ihnen steckt, was nicht zuletzt auch durch zwei recht gleichberechtigte Sänger durchschimmerte. Nur die Ansagen, allen voran das Los-Jungs-wir-spielen-Sheepdog-so-krass-wie-nie (was natürlich alles andere als brachial folgte), quittierten die Nicht-Zielgrüppler mit einem gequälten Gähnen. Alle anderen standen im Moshpit und legten los. Bis zur Zugabe, die es nicht gab.
Zum Höhepunkt des Haldern-Pop 2005 zeigte der Himmel sich dann doch noch einmal gnädig. Die Sterne leuchteten und auf der Bühne glänzten die geschätzten 23 Musiker von The Polyphonic Spree in ihren mintgrünen und roten Gewändern. Gehören sie einer Sekte an oder sind ein weißer Gospel Choir aus den Staaten? Staaten stimmt, alles andere aber nicht. The Polyphonic Spree sind Klang, gemeinsamer Klang, der auch die Menschen vor der Bühne in seinen Bann zieht, sie zu Klang werden lässt. Einssein in der Melodie, getragen von Gesang, Harfe, Bass, Bläsern und einem Ätherofon oder Theremin, benannt nach seinem Erfinder; ein elektronisches Instrument, das gespielt wird ohne es zu berühren. Die Spielweise als Gegensatz zur Musik, die sich steigert, intensiviert, ekstatisiert, in ihrem Höhepunkt selbst überschlägt. Ein optisches Gesamtkunstwerk, groß inszenierter Breitwandpop mit dem nötigen Happy-Feeling. Ob dem Percussionisten dies zu viel wurde, ist nicht überliefert. Dennoch bahnte er sich eine Schneise durch die Menschenmenge und fand sich nur kurze Zeit später zum Finale auf dem Mischer-Turm wieder. Eine fulminante Performance!
Und während die meisten sich wieder in die Schlange vor dem Spiegelzelt einreihten, um die Magie der Emiliana Torrini als Abschlussmoment einzufangen (nur bloß nicht die Lautstärke monieren, dann wird die Isländerin schon mal ein bisschen ausfallend ;)), überlegte der Rest, ob und wie die Steigerung im nächsten Jahr Haldern aussehen könnte. Wiederkommen ist sowieso obligatorisch. Und die Sterne am klaren, sommerlichen Halderner Festivalhimmel 2006 hoffentlich auch. (Sabine Rossi + Markus Wiludda, eldoradio*)