Konzertschau

Frauenmusik (Festival) - Bielefeld, Forum
18. November 2005

Die Protagonisten: Bernadette La Hengst, Rhythm King And Her Friends, Drawn Of Life, Stockholm.

Ich bin zu spät da und bereue es sofort. Und verfluche die Baustelle auf der A30 und jeden einzelnen Meter Stau, der schuld daran ist, dass ich Stockholm verpasst habe. Dass die heute hier spielt, wusste ich gar nicht, genauso wenig wie, wer sie ist, aber dieser eine letzte Song der Zugabe lässt mich den Vorsatz fassen, beim nächsten Mal wieder auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen, pünktlich dazusein und dann – man muss halt Opfer bringen – nachts den letzten Zug um drei Stunden zu verpassen und am Bahnhof zu nächtigen. Scheiße, kann die Frau singen!

Drawn Of Life kommen wie Stockholm aus Bielefeld und sagen mir erst mal genauso wenig. Und zunächst scheinen die fünf Mädels da oben so gut in die Sparte „ganz nette (aber braucht kein Mensch) Schülerband“ zu passen, dass man direkt verleitet ist, Noten zu vergeben. Eine Eins Minus für diese schicke Emily-The-Strange-Gitarre, Eine Fünf für die überflüssigen Theater-AG-Gesten der Sängerin, ein „Gut“ für die Keyboardmelodien, ein „Gerade noch ausreichend“ für die spärliche Bühnenpräsenz, eine Zwei Plus für die vielen originellen jazzigskafunkindiepoprockigen Ideen, eine Drei für die nicht immer gelungene Umsetzung... und gerade als man Drawn Of Life wenigstens noch ein halbes Sternchen fürs Mühegeben ins Heft malen will, greift sich die Keyboarderin/Gitarristin das zweite Mikro und liefert zusammen mit der Sängerin das schmalzloseste „Tell Me More“-Cover ever ab. Wieder ohne hundertprozentig sichere Performance, aber cool genug, um mich das Heft, Sternchen und Schulnoten zerreißen zu lassen und der Band, die übrigens als Organisatorin des Abends sowieso noch zig Bonuspunkte verdient hat, einen Anti-Barbie-Button abzukaufen.

Rhythm King And Her Friends kannte ich bisher vor allem aus Katharina Ellerbrocks Film „female+queer words+beats“. Da waren sie noch zu dritt. Jetzt ist Sara John raus und zumindest mir als erstmaliger Besucherin eines Konzerts der Band fehlt absolut gar nichts. Mir ist fast schleierhaft, wo da denn jemals noch eine dritte Person hingepasst hat, denn Pauline Boudry und Linda Wölfel sind als Duo perfekt eingespielt. Als „Queerlektopunkpop“ könnte man Musik und Performance der Berlinerinnen bezeichnen und würde damit das Megaphon, die internationalen Texte (wie kann Pauline nur so wunderbar lolitafrei französisch sein?!), die Videoprojektion und die verdammte Tanzbarkeit der Rhythmen ungerechterweise komplett unterschlagen. Und obwohl Rhythm King And Her Friends die politisch direkteste Band des Abends sind, gehen ihre Texte gegen Kapitalismus und Ausbeutung, für Frauenrechte und gegen Krieg kein Stück auf die Nerven, solange die Musik dazu so nach vorne geht. Es wird sich bewegt, auf der Bühne und davor.

Als Bernadette La Hengst dann ihren eher übersichtlichen Merchandise-Stand verlässt, um ihre Gerätschaften auf der Bühne aufzubauen, hat sich das Forum gut gefüllt. Und das mit sehr unterschiedlichen Menschen, wie ich während der Pause feststelle. Von den männlichen Dawn-Of-Life-Anhängseln über Indiemädchen bis zu Elektrojungs. Und statt der sonst allgegenwärtigen Forumspackopunks hat das Frauenmusikfestival andere Eigenwilligtänzerinnen am Start: Franziska-Becker-Comics entsprungen scheinende, knollnasige, Rundbrillen und selbstgestrickte Ringelsocken in Birkenstock tragende Grundschulmusiklehrerinnen mit Ökofrisur, die sich unglaublich freuen, dass sie in den Siebzigern doch nicht ganz umsonst auf all die Demos gegangen sind und die Nachgeneration nun ein so schönes Festival auf die Beine gestellt hat. Und die unglaublich befreit und unpassend und unrhythmisch und dann doch wieder unpeinlich, weil so ehrlich, tanzen.

Schon beim ersten Song der unangefochtenen Heldin des Abends, „La Beat Goes On“ tanzen aber sowieso alle. Was ein Beat, was ein großartiger Text dazu...! „Diringe Ding Deng/ Diringe Dong Dang/ Bowocke Wack Wack/ Beschocke Schack Schack...“ Yeah!!

Als zweites direkt der Tanzbodenvibrierer überhaupt: „Hunger“. Wie auch der Opener ein Stück vom aktuellen Album „La Beat“. Und ja, Frau La Hengst hat verdammt viel Hunger und ist niemals satt und ist gierig übertrieben unersättlich unzufrieden und will tanzen und macht das auch und reißt mit und das sind viel mehr als 140 Beats per minute und da ist schon das Limit aber es geht noch viel weiter und ist groß und dieser Text und dieser Beat und diese Unersättlichkeit...!!

Bernadette macht nicht nur Musik, sie performt, entertaint, spielt, tanzt, lässt tanzen, ist überall und schon wieder woanders und verschmilzt Elektro und Pop und Hip Hop und Funk und Rock und Punk und Deutsch und Englisch zu einem großen Ganzen und vielen riesigen Kleinen. In roten Stiefeln und mit Hahnenkammfrisur (die nur sie selbst mit denen von Sarah Connor und Marc Terenzi vergleicht) gockelt La Hengst über die Bühne, rennt zur Gitarre und dann wieder zurück zu den Mikros, instrumentiert, produziert (sich), provoziert, elektrisiert, fasziniert.

Zu „Copy Me (I Want To Travel)“ werden Rhythm King And Her Friends als Background-“Copy Me”-Chor auf die Bühne geholt, für “Her mit der Utopie” teilt die ehemalige Augenhaubraut das Publikum in „Liebe“ und „Geld“ auf und lässt Antworten skandieren:

Was brauchen wir?
Liebe!
Geld!
Was fehlt uns am meisten?
Love!
Mehr Geld!
Und was ist es was uns am Leben hält?
L´amour!
Was zu fressen!
Wie schaffen wir es immer wieder aufzustehen?
Amore! Amore!
Weil wir täglich zur Arbeit müssen!

Vor „Nie mehr vor Mittag“ gibt es Mutterwitz und mit „Rockerbraut und Mutter“ dann endlich die wunderbar unverklärte hengstsche Hommage ans Kinderkriegen, verbunden mit den lauten Forderung nach Role Models für ihre Tochter, wo sie doch selbst das beste ist. (Und ganz nebenbei die Frau, die Muff Potter eigentlich als Zweitstimme für „Schwester im Rock“ haben wollten.)

Natürlich spielt sie auch den Song, mit dem sie nun neben den Potters und den Rhythm Kings und so vielen anderen auf der so viel gerühmten Anti-Neues-Deutschtum-Compilation vertreten ist. Aber schon bei der Nummerierung von „Warum nicht 2“ ist klar, dass Bernadette sowieso nie relaxen konnte in Deutschland. Die „Bar Europa“ vom letzten Album gibt es als endgültigen Beweis dann auch noch dazu.

Sowieso hält sich die Anzahl von alten und neuen Songs fast die Waage. Und obwohl ein Großteil des Publikums vor allem die aktuelleren Stücke zu kennen scheint, ist kein Konzert der La Hengst komplett ohne „Der beste Augenblick“. Dass der sowieso gerade eben jetzt gewesen ist, ist eh klar... nein, halt! Jetzt! Nein... jetzt!! Jetztjetztjetzt!! Den ganzen Abend lang!! (Und live klingt das Ganze noch mal so unglaublich viel besser als auf dem nicht gerade überproduzierten Solodebütalbum!)

Bei den Zugaben verzähle ich mich dann tatsächlich. Vier Songs? Fünf? Das wunderschöne Gitarrenstück „Zug ohne Bremse“ ist dabei, als letztes dann „Globe“ und dazwischen „Die da oben machen ja doch was wir wollen“. Was genau jetzt außerdem Teil des regulären Sets und was Teil welcher der beiden Zugaben waren – wer außer Bernadette La Hengst selbst behält da schon noch den Überblick. Und selbst mit zusammengefallener Frisur, durchnässtem T-Shirt und fliegenden Schweißperlen bleibt das Einpersonenkollektiv unersättlich und hat immer noch Hunger auf mehr und führt zusammen mit ihrer Mischerin eine Choreographie auf und die Leute tanzen mit und sind selbst hungrig und kriegen nicht genug und dann ist es doch vorbei und Bernadette sagt Danke und geht von der Bühne und das war’s.

Aber ich bin mir sicher, sie kommt wieder und dann wird’s noch viel besser. Warum? - Warum nicht?

(Britta Helm, Radio Q)

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