Konzertschau

Charles Bradley im Lido.
9. November 2011

Ein Abend, dem man schon lange entgegengefiebert hatte, mit einem Mann, der inzwischen mit den ganz großen aus dem Soul-Business verglichen wird, und dessen Live-Show unvergleichlich sein soll. Sein Name: Charles Bradley.

2011 war sein Jahr. Daptone Records, Heimat von Sharon Jones & The Dap-Kings und ganz nebenbei unter anderem dafür verantwortlich, dass wir alle in den letzten Jahren verstärkt Soul und Funk gelauscht haben, veröffentlichte im Frühjahr „No Time For Dreaming“, das Debüt des 63-jährigen, der lange Jahre Chefkoch in einer Psychiatrie war.

Es ist die lange Geschichte eines eigentlich Gescheiterten, eines Getretenen, den der verdiente Ruhm nur sehr spät ereilte: erst im hohen Alter von 54 Jahren erschien die erste 7“-Single des Mannes, den sie „the screaming eagle of soul“ nennen. Vagabundenhaft trieb sich Bradley durch die Lande, auf der Suche nach Arbeit, nach Glück, nach innerem Frieden. Gerade hinsichtlich der aufkeimenden „Occupy“-Bewegung ist seine persönliche Geschichte des Getriebenen, der nur Sicherheit möchte – auch wenn sie in einer kompletten anderen Zeit stattgefunden hat – aktuell wie nie zuvor.

Wer das vorher nicht wusste und nur wegen der großartigen Stimme von Bradley und seiner Musik ins Lido gegangen ist, der wird eventuell auch etwas verwirrt gewesen sein, wenn er sich nach jedem Song so euphorisch beim Publikum bedankte. „Thank youuuu!“ und „I love you toooooo!“ schrie er in den vollen Saal des Kreuzberger Klubs, und einige amüsierten sich daran. Ein bescheidener Mann, dieser Charles Bradley, dessen Traum nach viel zu langer Zeit endlich doch in Erfüllung ging, und er sich deswegen einfach nur bedankte. Nie hatte er sich träumen lassen, in vollen, großen Venues in Europa vor größtenteils jungen Weißen zu spielen, und von einer hervorragenden Band  - The Extraordinaries - begleitet zu werden, die fast alle ebenfalls weiß waren, und vom Alter her auch noch alle seine Söhne sein könnten. Der Mann kennt noch sehr wohl die Zeiten, in denen Schwarze als Abschaum der Gesellschaft galten, umso unwirklicher müssen ihm solche Abende erscheinen.

Foto von Kai Müller (Stylespion)

Die große Frage war aber tatsächlich, wie seine Stimme klingen würde. So eine Stimme kann doch kaum eins zu eins live umgesetzt werden, glaubt man, wenn man vor dem Konzert noch einmal durch die Songs von Bradley geht. Zunächst lässt der Mann aber auf sich warten, denn um zwanzig nach neun betreten bloß sechs junge und eher unscheinbare Musiker die Bühne, begeben sich an ihre Instrumente und beginnen zu spielen. Dem einen Instrumental folgt das nächste, und man fragt sich, was Bradley aufhalten mag. Doch nachdem Keyboarder Mikey (der wie alle Bandmitglieder im Verlauf des Konzerts ausgiebig vorgestellt wurde) den Mann endlich ankündigt, wegen dem alle gekommen waren, und dieser dann die Bühne betritt, begrüßt ihn sein Publikum mit großer Freude und lautstarkem Jubel.

Als Bradley dann auch noch eindrucksvoll die ersten Zeilen singt und zeigt, was live geht, gibt es spontanen Szenenapplaus: er kann es doch live umsetzen. Und nicht nur das: er übertrifft sich sogar.
Das Lido erlebte eine Atmosphäre, die man sonst nur aus dem TV zu kennen meint: man kam sich teilweise vor, als sei man in einer Gospel-Kirche gelandet, in denen der Prediger noch von seiner Gemeinde angefeuert wird. Am Sonntag war das Lido definitiv die Gemeinde von Preacher Charles Bradley. Alle hingen an seinen Lippen, wenn es wirklich emotional wurde und er unter Tränen aus seinem Leben erzählte. Und alle schwingten wiederum Hüften und Tanzbein, wenn der Zeitpunkt dazu gekommen war.
Bradley strotze vor Energie, tanzte wie ein Besessener auf der Bühne und wechselte seine glitzernden Outfits gleich mehrmals. Zum Ende hin nahm er sogar ein ausgiebiges Bad in der Menge und verschwand daraufhin, nur um kurze Zeit später wieder die Bühne zu betreten und in einem der emotionalsten und bedrückendsten Momente, die dieser Konzertsaal wohl je erlebt hat, seinen letzten Song anzustimmen: „Heartaches And Pain“. Kummer und Mitgefühl lagen zum Greifen in der Luft, und unter Tränen sang Bradley die Geschichte vom Tod seines Bruders Joseph, der vor seiner eigenen Haustür erschossen wurde – der Adler kreischte sich seine Trauer aus der Seele.
Selbstverständlich gab es vorher ein höchst ausgelassenes Konzert allererster musikalischer Güte. Eine lange Jam-Session, bei der jeder der hochversierten Musiker auf humorvolle Weise zu seinem Solo kam, in dem sie mit ihrem Instrument beschrieben, was sie zuletzt mit ihren Partnern zu späten Stunden so angestellt hatten, stellte das stimmungsvolle Highlight des Abends dar und sorgte für großen Spaß im Publikum. Doch der letzte Beitrag von Bradley an diesem Abend berührte viele und setzte dem Abend die emotionale Krone auf. Unter großem Beifall verabschiedete sich Bradley gleich mehrfach von seinen Fans, und die Extraordinaries brachten das Ding sicher nach Hause, bevor sie dann auch die Bühne verließen.
Danach – nach anderthalb Stunden – war Schluss, und es ist nicht auszuschließen, dass Bradley hätte länger spielen sollen, aber selbst emotional so mitgenommen war von seinen Songs, von der fabelhaften Crowd und der großartigen Stimmung, dass er einfach nicht mehr konnte. Keiner hätte es ihm verübelt.

(Patrick Cavaleiro)

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